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Pressemeldung vom 16.02.2011

Ein Plädoyer für die Jungen

Schweizer Schulpsychologe und Psychotherapeut Allan Guggenbühl wirbt für geschlechtergerechte Pädagogik in der Schule


Kreis Paderborn (krpb). Über mehr Frauen in Führungsetagen wird derzeit viel diskutiert. In der Schule sind Mädchen bereits seit Jahren auf der Überholspur. Sie schreiben die besseren Noten, haben höhere Bildungsabschlüsse und fallen seltener auf. Ein Blick in die Statistik der psychologischen Beratungsstelle für Schule, Jugend und Familie des Kreises Paderborn zeigt: Mit rund zwei Dritteln sind Jungen deutlich häufiger als Mädchen von beratungs- und behandlungsbedürftigen Schwierigkeiten betroffen. Dr. Walter Kowalczyk, leitender Schulpsychologe des Kreises, nahm den 40. Geburtstag der Schulberatungsstelle zum Anlass, den Schweizer Schulpsychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl ins Berufskolleg nach Schloß Neuhaus einzuladen, um von den „Mühen der Jungen mit der Schule und der Schule mit den Jungen“ zu berichten. „Die Schule ohne Jungen – ein Paradies?“ lautete sein Thema.

„Mit diesem Vortrag sind wir unserer Zeit weit voraus“, sagte Landrat Manfred Müller bei der Begrüßung. Die Mädchen würden sich schon durchsetzen, meinte er schmunzelnd. Gesellschaftliche Umbrüche wie der Verlust der solidarischen Erziehungsgemeinschaft, in der sich jeder stillschweigend verantwortlich fühlte, und das nicht nur bei den eigenen Kindern, sowie die neue Medienwelt würden den Alltag radikal verändern. Auch in der Schule. Müller dankten den anwesenden Lehrerinnen und Lehrern und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Beratungsstelle für ihre Arbeit, die unter diesen neuen Vorzeichen alles andere als einfach sei. „Sie arbeiten an unserer Zukunft“, meinte er anerkennend.

Jungen haben mehr Probleme in der Schule, und „wir müssen uns fragen, warum das so ist“, sagte der Schweizer Schulpsychologe und Psychotherapeut Allan Guggenbühl. In seinen Sprechstunden gebe es viele Jungen, die ihm sagten „mit mir stimmt etwas nicht“. Wenn Jungen so ein Problembewusstsein bereits internalisiert haben, läuft etwas falsch. So etwas darf die Gesellschaft nicht zulassen“, meint Guggenbühl. Der Psychologe skizzierte zunächst das unterschiedliche Sozialverhalten: Mädchen reden stundenlang über zwischenmenschliche Beziehungen und „akquirieren dabei Informationen“. Basierend auf diesen Infos erfolgt die Auslese. Es bilden sich Freundschaften mit der „permanenten Pflicht zur Information“, so Guggenbühl. Jungen hingegen teilen sich und ihre Gefühle über Objekte mit, wie z.B. das neue Handy oder das neue Mountainbike. Sie reden lieber über die Fußballmannschaft oder technische Dinge, benützen weniger eine Beziehungs- als eine Berichtssprache. Sie brauchen klare Regeln, bilden sehr schnell Hierarchien, in denen sich der Einzelne dann entwickeln kann. Jungen provozieren ihr Gegenüber, um eine authentische, unmittelbare Reaktion zu bekommen. Kleines Beispiel: Mädchen begrüßen sich mit „ach, wie schön, dass wir uns sehen“. „Na, wie geht`s, du Idiot“, ist eine männliche Begrüßungsvariante unter Freunden. Klar, dass so eine solche Kontaktaufnahme einem Lehrer gegenüber auf Unverständnis stößt.

Seit etwa 10 Jahren habe die Schule sich auf eine Weise entwickelt, die der weiblichen Psychologie entgegen komme. Individuelle Lernziele statt Ausrichtung auf Gruppennormen, Beurteilungsgespräche statt nackter Noten, Teamarbeit anstelle von Einzelleistungen. Gibt es Probleme, werden diese durch „lösungsorientierte Gespräche“ gelöst. Jungen nehmen so etwas eher als „Harmonie-Terror“ wahr, so der Psychologe. Außerdem brauchten Jungen mehr Bewegung. Stundenlanges Sitzen auf dem Stuhl sei eine Tortur für sie. Was also tun? Denn schließlich kann Unterricht nicht in der Turnhalle statt finden. „Die Schule darf die Jungen nicht verlieren“, sagt Guggenbühl. Es gebe nun mal Mädchen und Jungen und damit Unterschiede, die nicht weg subtrahiert geschweige denn bekämpft werden könnten und dürften. Das System „Schule“ müsse sich auch auf die Jungen einstimmen. Forderungen im Unterricht sollten nicht durch wortreiche Erklärungen und Appelle an die Eigenverantwortung vernebelt werden. „Jungen brauchen klare Ansage. Der Lehrer muss ihnen das Gefühl vermitteln, wer der Boss ist“, so Guggenbühl. Auch männliche Themen wie Schlachten, Technik und Katastrophen gehörten in den Klassenalltag. Er sprach von „lustvollen Provokationen und Kämpfen“, von Anpassung über Widerstand. Er warb für mehr zur „Mut zur Differenzkultur“ bis hin zur zeitlich begrenzten, räumlichen Trennung, um andere Themen anbieten und abweichende Arbeitsweisen anwenden zu können. Wichtig sei natürlich die Gleichberechtigung: Aber das Geschlecht dürfe kein Kriterium für soziale Positionen sein.

Zum Autor: Professor Dr. Allan Guggenbühl ist Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche an der kantonalen Erziehungsberatung der Stadt Bern und des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama (IKM) in Bern und Zürich/Stockholm. Er ist zudem Dozent für Psychologie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich und am HAP (Hochschule für Angewandte Psychologie) in Zürich sowie Autor verschiedener Bücher und Artikel zu diesem Thema. Von ihm erschienen ist beispielsweise auch das Buch „Kleine Machos in der Krise“.

Hintergrund: Die Psychologische Beratungssstelle für Schule, Jugend und Familie blickt in diesen Tagen auf vier Jahrzehnte zurück. Eine gelungene Schullaufbahn schafft Perspektiven fürs Leben. Deshalb sollen Hindernisse frühzeitig erkannt und gegengesteuert werden: Ob Rechtschreib- oder Mathematikschwäche, Verhaltensauffälligkeiten oder Kommunikationsstörungen im Schulgetriebe: Kowalcyk und sein Team möchten Eltern, Lehrer, Kinder, Jugendliche, Erzieher, Sozialarbeiter, Kindertagesstätten und Schulen unterstützen und fachkundig beraten, damit der Alltag gelingt. Dazu zählen auch Seminare zu den wichtigsten Problemstellungen. Mehr Infos im Internet: www.kreis-paderborn.de (Rubrik Ämter, Schulberatungssstelle).

 

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